Festival für Weltliteratur
17.–22.4.2023 – Köln

»Das chorische Ich – Writing in the name of«

Wer Namen nennt, übernimmt Verantwortung. Was im Namen der Einen einfach gesagt werden kann, bleibt im Namen der Anderen unaussprechlich oder gerät zum Übergriff. Vielleicht rührt daher die Jahrhunderte alte Lust der Poesie, in fremden Namen zu sprechen, sich als Chor zu maskieren, Pseudonyme zu wählen, als Sprachrohr der Götter, der Natur oder einer Gemeinschaft aufzutreten. 
»I am the people – the mob – the mass. Do you know that all the great work is done through me?« Mit diesen Versen hat der Dichter Carl Sandburg sein lyrisches Ich 1916 in einen Chor verwandelt, der paradoxerweise im Singular spricht. Auf YouTube finden sich Kinder aus der ganzen Welt, die das Gedicht in Slums, auf Müllhalden und heimischen Sofas, aber auch bei Schulwettbewerben in ihre Kameras deklamieren: Ein mediales »chorisches Ich« mit frei flottierender Identität. Das »Sprechen im Namen von X« lädt zu poetischen Rollenspielen ein, die dichterische Freiheiten stiften, vom Zwang zur Identität erlösen oder neue Identitäten begründen können. Die achte Ausgabe der Poetica will daher nach der Stellvertretung in Gedichten fragen: Wer spricht für wen? In wessen Namen wird gedichtet? Und welche Rolle spielen dabei die Namen der Dinge, ihre Eigenart und Materialität, ihr spezifischer Klang in Original und Übersetzung? 
Die Dichter:innen der Poetica 8 sprechen im Namen der Kragenechse, der Termite und des Kängurus. Sie beziehen Stellung im Namen von Gemeinschaften, im Namen der Unberührbaren in Indien und der Murri in Australien, im Namen der LGBTQ+-Bewegung in Nigeria und der Wanderarbeiterinnen in China. Schon Eigennamen wie »February«, »Fogarty« oder »Sukirtharani« erzählen von Kasten- und Klassenkämpfen, von Unterdrückung und Kolonialisierung, aber auch von der Emanzipation durch die Mittel der Poesie. Denn Stellvertretung darf, so Karl Marx, nicht nur »als eine Konzession an die schutzlose Schwäche, an die Ohnmacht« betrachtet werden. Sie sei vielmehr auch ein Zeichen »selbstgewisser Lebendigkeit«. Genau diese Lebendigkeit poetischer Stellvertretung soll die Poetica 8 eine Woche lang unter Beweis stellen.

- Christian Filips